Immer mehr Unternehmen vermeiden oder umgehen offenbar die paritätische Mitbestimmung von Beschäftigten in Aufsichtsräten. Das legt eine aktuelle Studie des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung nah.

Der Untersuchung zufolge wurden 2022 „mindestens 2,45 Millionen Beschäftigten in Großunternehmen eine paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten versagt“. Das seien rund 300.000 Personen mehr als 2019, schreiben die Forschenden um Dr. Sebastian Sick.

Von 1084 Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten in Deutschland, die nicht dem sog. Tendenzschutz unterliegen, verfügten demnach nur 656 über einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat, wie es die Mitbestimmungsgesetze vorsehen. Das entspricht laut I.M.U nur noch etwa 60 Prozent, verglichen mit gut 67 Prozent im Jahr 2019.

Wie es in einer Mitteilung weiter heißt, bedienten sich dabei von 428 Großunternehmen ohne paritätische Mitbestimmung 256 Unternehmen mit insgesamt mehr als 1,7 Millionen Mitarbeitenden hierzulande „legaler juristischer Kniffe zur Mitbestimmungsvermeidung – sei es gezielt oder als Nebeneffekt“. 172 mit mehr als 720.000 Beschäftigten „ignorierten rechtswidrig die Gesetze“. Als Beispiele für Letzteres nennt die Studie – mit der Einschränkung „soweit nach den genutzten Quellen ersichtlich“ – die „Drogeriekette Rossmann, IKEA Deutschland oder den Lebensmittelhändler Alnatura“.

Studienautor Dr. Sebastian Sick sieht darin ein Problem: „Das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft ist hierdurch ernsthaft gefährdet“, sagt Sick. Denn so werde „eine wichtige Ressource der deutschen Wirtschaft geschwächt“, zeigten wissenschaftliche Untersuchungen doch, „dass mitbestimmte Unternehmen gerade in Umbruch- und Krisenzeiten erfolgreicher sind, dass sie ökologisch und sozial nachhaltiger agieren und mehr investieren“.

Familienunternehmen und bestimmte Branchen vermeiden Mitbestimmung oft

Im Hinblick auf Branchen und Besitzverhältnisse der untersuchten Unternehmen zeigen die Ergebnisse zwei Auffälligkeiten: So seien Familienunternehmen „besonders häufig“ vertreten, wenn es um Vermeidungs- oder Umgehungsstrategien im Hinblick auf Mitbestimmungsgremien gehe: „66 Prozent der Unternehmen, die Mitbestimmung über Gesetzeslücken vermeiden, sowie 60 Prozent der Ignorierer sind in Familienbesitz“, so das I.M.U. Bei den Branchen beobachte man derlei v.a. im Facility Management, in der Leiharbeit sowie im Handel oder Gesundheitsbereich. Hier „hebelt sogar eine Mehrheit der Großunternehmen die paritätische Mitbestimmung legal oder illegal aus“.

Der Wissenschaftliche Direktor des I.M.U., Dr. Daniel Hay, kritisiert das: „Wenn demokratische Rechte nur auf dem Papier stehen, stellt das sowohl die Glaubwürdigkeit eines Rechtsstaats in Frage als auch die soziale Marktwirtschaft. Mitbestimmung auszuhöhlen ist politisch und ökonomisch ein Riesenfehler, eine Hypothek für die Zukunft der sozial-ökologischen Transformation.“

Um Abhilfe zu schaffen, sehen die Forschenden auch den Gesetzgeber in der Pflicht. Dieser habe „sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene etliche Möglichkeiten, der Mitbestimmung Geltung zu verschaffen“. Ansätze für entsprechende Reformen seien auf fünf verschiedenen Ebenen „europarechtskonform möglich“, wie verschiedene Gutachten zeigten.

Datenbasis für die Untersuchung sind nach I.M.U.-Angaben Einträge in Unternehmensdatenbanken, Jahresabschlüssen sowie Handelsregisterauszüge, die das Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht der Universität Jena analysiert hat.

Der Volltext der Studie „Erosion der Unternehmensmitbestimmung. Zur Mitbestimmung und Mitbestimmungsvermeidung in Deutschland“ (zugleich: I.M.U. Mitbestimmungsreport Nr. 81) kann auf den Seiten des I.M.U. abgerufen werden.

 

Info

Im Koalitionsvertrag (wir berichteten) hatte die Ampelregierung u.a. angekündigt:

„Missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts wollen wir verhindern. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt). Wir werden die Konzernzurechnung aus dem Mitbestimmungsgesetz auf das Drittelbeteiligungsgesetz übertragen, sofern faktisch eine echte Beherrschung vorliegt.“

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